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Transgender Netzwerk Berlin zum Mord an einer Transsexuellen in Portugal

(1. April 2006) Presse-Mitteilung des Transgender Netzwerkes Berlin (TGNB)

Entsetzen in der europäischen Transgender-Gemeinde über die Folter und den Mord an einer Transsexuellen in Portugal sowie über die Versuche der Vertuschung und Verschleierung dieses Hassverbrechens**

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*Die tagelange Folter und die Ermordung der brasilianischen Transsexuellen Gisberta S. durch eine Gruppe Jugendlicher in der portugiesischen Hafenstadt Porto schockierte nicht nur die internationale Transgender-Gemeinde. Noch während internationale Transgender-AktivistInnen, die seit langem den Schutz vor solchen Hassverbrechen fordern, damit beschäftigt waren Mahnwachen in Lissabon, Wien und Sydney zu organisieren, erreichte sie der zweite Schock: der Versuch katholischer Würdenträger dieses grausame Verbrechen als “Gerechtigkeit mit blossen Händen schaffen” zu legitimieren sowie die Desinformationspolitik des Großteils der Medien. Europäische Transgender-AktivistInnen und ihre FreundInnen reagieren nun mit weiteren internationalen Aktionen auf den doppelten Skandal dieses Hassverbrechens und seiner Vertuschungsversuche.*

*Der erste Skandal*

Am 22. Februar 2006 starb Gisberta S., eine brasilianische Transsexuelle, die seit vielen Jahren in Portugal lebte, nachdem sie in Porto von einer Gruppe von Jugendlichen drei Tage lang sadistisch gefoltert, sexuell missbraucht und schließlich in einen 10 Meter tiefen Graben geworfen wurde, in dem sie ertrank. Die jungen Täter waren 14 Jugendliche und Kinder im Alter von 11 bis 15 Jahren, die in einem Heim für “schwer erziehbare Kinder”, welches von der katholischen Kirche geleitet wird, leben. Sie kannten ihr Opfer, die obdachlose Brasilianerin Gisberta S., die in Bauruinen lebte, und stellten ihr bereits vor dem Mord mehrmals nach.

Es sind Hassverbrechen (hate crimes) wie dieses, aufgrund derer viele Transgender aus Brasilien nach Europa fliehen, erklärt Carsten Balzer, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates des TGNB, der als Ethnologe Feldforschungen in den Transgender-Subkulturen Rio de Janeiros durchgeführt hat. Wenngleich einzelne Stadtregierungen Brasiliens große Fortschritte in der Menschenrechtspolitik für Schwulen, Lesben und Transgender erreichten, ist die Zahl und Brutalität der Hassverbrechen gegen diese Gruppen in Brasilien erschreckend. Laut einer amnesty international-Einschätzung gilt Brasilien als eines der Länder mit der höchsten Rate trans- und homophober Gewaltverbrechen. Den Statistiken der brasilianischen Nichtregierungsorganisation Grupo Gay da Bahia zu Folge, in denen die Dunkelziffer nicht enthalten ist, fielen in Brasilien in den letzten Jahren jährlich zwischen 120 und 170 Menschen trans- und homophob motivierten Morden zum Opfer. Dass die Brasilianerin Gisberta S. nun in einem europäischen Land mit der gleichen Gewalt und dem gleichen Hass konfrontiert wurde, vor der Menschen wie sie aus Brasilien fliehen, ist Anlass zu größter Besorgnis.

Auch in Europa sind Hassverbrechen gegen Schwule, Lesben und insbesondere gegen Transgender bekannt. Julia Ehrt, TGNB-Referentin für Öffentlichkeit und Mitglied der Vorbereitungsgruppe des 2. Europäischen Transgender-Rates (2. European Transgender-Council) erklärt, dass die Forderung nach dem Schutz vor Hassverbrechen wie diesem, eine der zentralen Forderungen des 1. Europäischen Transgender-Rates in Wien im November 2005 war, an dem über 120 Transgender-Delegierte aus 23 europäischen Ländern teilnahmen und über 50 Organisationen repräsentierten. Die Folter und der brutale Mord an Gisberta haben die Wichtigkeit der Forderung nach Schutz vor Hassverbrechen auf grausame Weise bestätigt.

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*Der zweite Skandal*

Die Mehrheit der portugiesischen Medien vermied es von einem Hassverbrechen zu sprechen, tilgte die sexuelle Gewaltkomponente aus den Berichten und beschrieb Gisberta als einen Mann (oder einen Transvestiten). Aus der mehrfachen Stigmatisierung Gisbertas als Transsexuelle, Migrantin, Obdachlose, Sexarbeiterin und HIV-Positive wurde in den portugiesischen Medien nur die Obdachlosigkeit hervorgehoben.

Die portugiesischen AktivistInnen Jó Bernardo von der Transgender-Organisation at (Associação para o Estudo e Defesa do Direito à Identidade de Género) und Sérgio Vitorino von der Anti-Homophobie-Organisation Panteras Rosa (Movimento Panteras Rosa Frente de Combate à Homofobia) erklären, dass auch die PolitikerInnen - von einigen Ausnahmen abgesehen - es vermieden von einem “Hassverbrechen” zu sprechen, da Jugendliche involviert waren. Keine der politischen Parteien verurteilte das Verbrechen offiziell. Der katholische Priester Lino Maio, der Präsident der UIPSS, einer Union sozialer Einrichtungen, zu der auch jenes Heim für “schwer erziehbare Kinder” gehört, gestand den Jugendlichen “mildernde Umstände” zu, da sie “Gerechtigkeit mit ihren eigenen bloßen Händen geübt hätten” und nur das falsche Opfer erwischt hätten. Womit er auf eine vermutete Belästigung eines Kollegen durch einen “Pädophilen” anspielte. Diese fehlleitende Argumentationsweise wird von den Panteras Rosa als Versuch Homosexuellen und Transgendern selbst die Schuld zuzuschreiben heftig kritisiert und verurteilt. In der portugiesischen Tageszeitung Público wurde die Tat, eine drei Tage andauernde Folter und sexuelle Misshandlung mit anschliessender Ermordung, als eher “unbewusst, denn vorsätzlich begangen” beschrieben. Laut einem Bericht der gleichen Zeitung konnte das Institut für Forensische Medizin in Porto angeblich nicht eindeutig feststellen, ob Gisberta an den Folgen der Folter und Vergewaltigungen, an Ertrinken oder an ihrem schlechten gesundheitlichen Zustand starb. Dieser merkwürdige und für die Einordnung des Verbrechens nicht unwesentliche Umstand, gehört zu den vielen Verwirrungen, die in der Folge dieses Hass-Verbrechens entstanden.

In Deutschland wurde bislang kaum über den grausamen Mord an Gisberta berichtet und wenn dann auf ebenfalls nicht unproblematische Weise. Wenn in deutschen Medien (stern.de, n24.de) kolportiert wird, dass ökonomische Gründe zu Gisbertas Migration nach Europa führten, womit der Versuch in Europa das Geld für eine geschlechtsangleichende Operation zu verdienen gemeint sein soll, so ist das nur die halbe Wahrheit und verschleiert ebenso die traurige gesellschaftliche Realität der Trans- und Homophobien sowie der brutalen Hassverbrechen mit denen Transgender nicht nur in Brasilien konfrontiert sind. Die in diesen Artikeln wiederholte Erwähnung eines “Päderasten”, der das Kinderheim besucht haben soll, trägt nicht zu einer sensiblen und angemessenen Auseinandersetzung mit solchen schlimmen Formen von Hass und Gewalt bei, da die Ursachen verschleiert werden. VertreterInnen von Panteras Rosa und at erklärten schon früh in einer Pressemitteilung: “/Wir fragen nicht, ob Kinder fähig sind zu hassen. Es ist die portugiesische Gesellschaft, die hasst und in der die Kinder aufwachsen. Der Hass gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender, insbesondere die Transphobie, sind eines der gravierenden, sozialen Probleme, die von Generation zu Generation reproduziert werden./”

Die Mitglieder des TGNB, eines 21 Gruppen umfassenden Transgender- und Intersex-Netzwerkes, schließen sich der Reaktion der portugiesischen Transgender-Gemeinde und ihrer FreundInnen sowie den AktivistInnen des Europäischen Transgender-Rates an und erklären zusammen mit diesen, dass sie tief schockiert, traurig und wütend sind über:

- den grausamen Mord an Gisberta

- die Folter und Vergewaltigungen, die Gisberta in den letzten Tagen ihres Lebens erleiden musste

- den Hass, der den jugendlichen Täter eingepflanzt wurde und, der ihr Leben mit Schuld belastet

- die von Medien verbreitete Desinformation und Konfusion

- den Versuch, die Hintergründe des Mordes an einer vielfach sozial marginalisierten Person zu verdunkeln

- den Versuch, dem Opfer die Schuld anzulasten

- das öffentliche Schweigen

Angesichts des grausamen Mordes und der tragischen Entwicklung seiner “Aufklärung” kündigen die international vernetzten Transgender-Organisationen - darunter das TGNB - weitere Aktionen in Portugal und anderen europäischen Ländern an, um auf den zweifachen Skandal hinzuweisen.

Zusammen mit den internationalen Transgender-Organisationen, die sich dem Kampf um das Gedenken an Gisberta (Vigília por Gisberta) angeschlossen haben, erklären die Mitglieder des TGNB:

- ihre uneingeschränkte Solidarität mit dem Opfer und den portugiesischen AktivistInnen

- ihr völliges Unverständnis über die Art wie die politisch Verantwortlichen und die Medien in Portugal mit diesem Verbrechen umgehen sowie über eine Situation, die eine gänzliche Respektlosigkeit gegenüber den elementarsten Menschenrechten darstellt und in einem Land der Europäischen Union im 21. Jahrhundert unakzeptabel ist

- und fordern umfassenden Schutz vor und wirksame Maßnahmen gegen Diskriminierung aufgrund trans- und homophober Einstellungen.

Carla LaGata,

Arbeitskreis Öffentlichkeit des Transgender Netzwerk Berlin TGNB

*Weitergehende Informationen unter: & *

*Zum Stand internationaler Aktionen siehe auch: (mehrsprachig)*

*Zur aktuellen Diskussion in Portugal siehe auch: (portugiesisch) *